20. Februar 2012, Playa del Carmen, Colonia Bellavista

Die Colonia Bellavista ist eine Siedlung, die nicht weit von Playa del Carmen entfernt ist. Doch mit der aufstrebenden Touristenmetropole hat dieser Ort wenig gemeinsam. Hier sieht man armselige Unterkünfte, bewohnte Häuser ohne Putz und Fensterscheiben, Straßen in schlechtem Zustand, mit Bauschutt am Rand. Unser Einsatzort ist die Pfarrei Corpus Christi. Schon bei unserer Ankunft warten viele Patienten, sie sitzen in Stuhlreihen im Schatten von Bäumen. Die Helfer aus der Gemeinde haben alles perfekt organisiert: Aus der Kirche waren die Stühle herausgeräumt worden, Behandlungsräume für die Ärzte wurden mit Bettlaken abgeteilt, die an Seilen aufgehängt waren. Die Patienten werden einzeln aufgerufen. Jugendliche verteilen Getränke und Kekse.

Unter den Wartenden fällt mir eine Frau mittleren Alters auf. Vier kleine Kinder spielen vor ihr auf dem Boden. Ihre Enkel? Ich spreche sie an. Sie heißt Maria Ofelia Moreno, ist 51 Jahre alt und hilft als Katechistin in der Gemeinde. Die Kinder, die sie mitgebracht hat, zwei Mädchen und zwei Jungen, sind die Kinder von Bekannten. Beide Elternteile arbeiten in Playa del Carmen und haben tagsüber keine Zeit für Arztbesuche. Maria Ofelia springt ein, wenn sie kann. Sie hat Frühstück für die Kinder dabei, und bevor sie ihnen Cola gibt, prüft sie genau, ob diese nicht zu kalt ist. Zum Arzt muß sie nur mit dem fünfjährigen Angelito, der Halsschmerzen und Fieber hat.

Die Wartezeit ist lang. Ich frage Maria Ofelia nach den Lebensumständen in der Siedlung. Hier leben, so erklärt sie, viele Menschen, die mit ihren Familien ihre Dörfer verlassen haben, um in Playa del Carmen Arbeit zu finden. Im Hotel oder Restaurant, als Kellner, Putzhilfe, Zimmermädchen oder Wachmann. Viele sind hier gestrandet, haben keine Stelle gefunden, ihre Lebensperspektive verloren. Alkoholismus sei ein großes Problem, erzählt Maria Ofelia. Doch auch wer hart arbeitet, kommt kaum über die Runden: Für eine Krankenversicherung oder Arztbesuche reicht das Geld trotzdem nicht. Oft müssen in den Familien beide Elternteile arbeiten.

Die Kinder bleiben dabei auf der Strecke. Tagsüber sind sie sich selbst überlassen, denn es fehlen Betreuungsmöglichkeiten. Viele der Kinder hier werden von den Eltern nicht zur Schule geschickt, erzählt Maria Ofelia. Sie müssen versuchen, sich alleine zu beschäftigen. Die armen Verhältnisse, in denen sie aufwachsen, werden sie wahrscheinlich nicht überwinden können. Denn ohne Schulbildung haben sie keine Perspektive. „Wir aus der Gemeinde versuchen zu helfen“, erzählt Maria Ofelia. Wichtig sei es, herauszufinden, welche Familien Unterstützung bräuchten und wo Kinder leben, die vernachlässigt werden.

Es dauert noch eine Weile, dann wird Maria Ofelia mit Angelito zur Aufnahme gerufen. Krankenschwester Stephanie Lindner fragt sie nach Angelitos Beschwerden und schickt den Jungen zu Dr. Shanti Lokhande, die für uns als Kinderärztin arbeitet. Shanti untersucht ihn gründlich, hört Herz und Lunge ab und schaut ihm in den Hals. Sie verschreibt ihm eine Eukalyptuscrème, die Maria Ofelia bei Maeve Kirwan abholt: Gemeinsam mit zwei anderen Teammitgliedern verwaltet Maeve unsere Apotheke, gibt Medikamente aus und erklärt den Patienten noch einmal die Dosierung. Gewiß wird es Angelito bald besser gehen.

Rund 500 Patienten haben wir heute, am ersten Tag unseres Einsatzes, behandelt. Es war beeindruckend zu sehen, mit wie viel Aufmerksamkeit und Freude uns die Helfer aus der Gemeinde unterstützt haben. Die Colonia Bellavista ist kein schöner Ort, doch diese Menschen arbeiteten mit einem Lächeln, das wir nicht vergessen werden.